Hamburg (dpa) – Zwei weit gespreizte fast nackte Beine sind das Markenzeichen einer der berühmtesten Kneipen des Hamburger Kult-Stadtteils St. Pauli. Sie gehören zum Lokal «Zur Ritze». Seit fünf Jahrzehnten wird dort getrunken und geboxt. Berühmtheiten wie Jan Fedder, Ben Becker und Udo Lindenberg gingen und gehen hier ein und aus. Berüchtigte Rotlicht-Größen haben hier einst hinter einem dicken roten Vorhang Geschäfte aller Art besiegelt. Die «Ritze» steht wie auch die Kneipen «Zum goldenen Handschuh» und «Elbschlosskeller» für das alte, verwegene St. Pauli, das jährlich Millionen Touristen anlockt. «Es ist wie in einer Zeitkapsel, wenn ich hier bin», sagt selbst «Ritze»-Betreiber Carsten Marek. Am 24. Oktober wird die «Ritze» 50 Jahre alt und das wird groß gefeiert.
Bordelle und Boxen
Kickboxweltmeister Carsten Marek fing in den 80er-Jahren bei der Nutella-Gang als Wirtschafter an und war in den 2000er-Jahren berüchtigter Chef der 80-köpfigen Marek-Bande, die mit harter Hand mehrere Bordelle auf dem Kiez unterhielt. Der 64-Jährige betreibt heute noch ein Bordell in Hamburg-Hamm, das «Babylon». Ins Kneipenbusiness stieg er 2014 ein. Zu der Zeit übernahm er erst den Boxkeller der berühmten Kiez-Kneipe «Zur Ritze» und wenig später auch das Lokal selbst. Noch heute wird im Keller geboxt, rund 100 Männer und Frauen trainieren dort.
Als Marek die «Ritze» übernahm, musste er der Witwe von «Ritze»-Gründer Hanne Kleine versprechen, dass er alles im Originalzustand lässt. Und so sieht es auch heute noch so aus wie in der Blütezeit des Rotlichtmilieus in Hamburg, als die schillernden Persönlichkeiten und Zuhälter – die Luden – feste Stammgäste in der Hinterhof-Kneipe waren.
20 Millionen Menschen kommen jährlich auf den Kiez
«St. Pauli lebt noch heute viel vom Mythos vergangener Jahrzehnte», sagt auch Polizeisprecher Florian Abbenseth dazu. Das weltberühmte Rotlicht- und Vergnügungsviertel, in dem seit 2007 Waffen verboten sind, wird der Polizei zufolge jährlich von schätzungsweise rund 20 Millionen Menschen besucht. An den Wochenenden sind es in der Spitze wohl mehrere Zehntausend zur gleichen Zeit.
Natürlich spielen Sex und Rotlicht nach wie vor eine Rolle auf der Reeperbahn, doch längst nicht mehr so eine große wie noch vor Jahrzehnten, als rund 10.000 Frauen auf dem Kiez anschafften. «Während sich der größte Teil der Hamburger Prostitutionsangebote – verstärkt durch die Corona-Pandemie – in den letzten Jahren ins Internet verlagert hat, findet man auf St. Pauli nach wie vor die „klassische“ (Straßen-)Prostitution», sagt Polizeisprecher Abbenseth dazu. Gut 1.000 Frauen sind derzeit laut Sozialbehörde offiziell als Sexarbeiterinnen in Hamburg angemeldet und dürfen legal als Prostituierte arbeiten. Das sind rund 500 weniger als 2019.
Muss der Kiez sich neu erfinden?
Doch reicht es, nur die alte Kiez-Romantik großzuschreiben und die wilden Geschichten wieder und wieder zu erzählen? «Nein, es braucht den Wandel, um bestehen zu können», sagt Ricarda Belmar dazu. Die toughe Hotelfachfrau und studierte Betriebswirtin hat vor einiger Zeit angefangen, unlukrative Bordelle zu pachten und in deutlich gewinnbringendere Ferienwohnungen umzubauen. «Ich bin quasi der Wandel. Ich bin das moderne St. Pauli», sagt die selbständige 34-Jährige.
Auch sie profitiert davon, dass der Kiez sich enorm gut verkaufen lässt. Ob im Fernsehen, bei den Stadtführungen, für Public Viewing oder andere Großveranstaltungen oder eben zum Übernachten. «Der Hunger nach St. Pauli ist riesig», sagt Ricarda Belmar. Fünf Bordelle hat sie bereits zu Ferienwohnungen mit originalem Kiez-Flair umgebaut, 80 Betten gibt es insgesamt.
Wandel ja, aber bitte richtig
Wenn es nach ihr ginge, dürfte der Wandel sogar noch ein bisschen weiter gehen. Wie sie wünschen sich auch viele Gastronomen, Kiez-Größen und Anwohnerinnen und Anwohner mehr Glamour und weniger Drogen und Kioske. «Flatrate-Saufen, Dönerbuden, Handytaschenläden – die machen das schöne St. Pauli hier kaputt», ist Ricarda Belmar überzeugt und «Ritze»-Chef Marek nickt. Auch Quartiersmanagerin Julia Staron ist davon überzeugt, dass das Viertel vor Herausforderungen steht. Die größten seien derzeit «der Mietpreiskampf im Gewerbe und beim Wohnen sowie die Außerhausverkaufs-Saufbuden».
Der Kiez steht seit jeher für Toleranz, für Diversität. Auch das «alte» St. Pauli hatte stets Platz für viele Persönlichkeiten und Lebensstile. So gab es unter anderem das St. Pauli der Beatles, das der Revuetänzerinnen aus dem «Alcazar», das der Reepschläger, das der Gaukler, das der Seeleute, das der 90er Jahre und das der Luden. «Die Reeperbahn hat eine sehr diverse DNA und das ist sehr gut so», sagt Staron weiter. Genauer beschreiben lasse sich diese DNA noch nicht, findet sie. «Wir sind da mit unserer Forschung noch nicht am Ende (wenn wir es jemals sein werden) … Aber eines ist bereits sicher: Der absolute Freiheitswille!».
«Zur Ritze» feiert und startet neue Show
Einige Geschichten des alten und des neuen Amüsierviertels wollen Marek und einige seiner Weggefährten und Freunde nun regelmäßig im Boxkeller der «Ritze» erzählen. Die Personality-Show «Kiezlife Live» holt dafür neben Marek und Ricarda Belmar noch andere Kiezoriginale in den Ring. «Wir wollten ein Format auf die Beine stellen, das weiter geht als die Führungen über den Kiez – und zwar mit Geschichten, die auf jeden Fall authentisch sind», sagt Produzentin und Moderatorin Taiebi, die sich das Konzept ausgedacht hat. Es ist eine Kooperation mit dem Konzertveranstalter a.s.s. concerts.
120 Menschen passen in den Boxkeller und können die etwa 90-minütige Show verfolgen. Sie soll eine Mischung aus Talk, komödiantischen Einlagen und Musik sein. «Unsere Protagonisten polarisieren. Sie waren und sind Teil der Rotlichtszene.» Während der Show wollen sie durchaus auch selbstkritisch reflektieren, vor allem aber gehe es um Unterhaltung, sagt Produzentin Taiebi. «Wir sind „Inas Nacht“ in frech.»
Zuvor aber wird gefeiert. Bei der großen Party am 24. Oktober in der «Ritze» und im direkt benachbarten «Moondoo» erwartet Marek rund 1.000 Gäste, darunter auch viele Promis und Gäste aus Politik, Milieu, Medien und Boxsport.